Gangwerks-Entwicklung bei Hunden - und der ganze Rest

 

Eine fünfstündiger Crash-Kurs in Sachen Kynologie

 

Der Rassezuchtverein für Hovawarte hatte in den letzten Jahren sehr für eine Studie zur Gangwerkentwicklung bei Hunden geworben und Züchter und Welpenbesitzer zur Teilnahme animieren können. Ab der achten Woche waren Welpen und junge Hunde wiederholt zur Untersuchung und Ganganalyse vorgestellt worden. Für alle Beteiligten war es ein erheblicher Aufwand mit meist mehreren hundert Kilometern Anfahrt für die Hundehalter und häufig genug Investition der knappen Freizeit für die teilnehmenden Tierärzte.
Nun wurde zum Vortrag von Professor Martin Fischer und Dr. Katja Söhnel, beide Universität Jena, eingeladen, um die Ergebnisse „aus erster Hand“ zu hören. Dr. Söhnel breitete ungeheure Mengen an Daten vor uns aus, die den anschaulichen und mitreißenden Vortrag von Professor Fischer untermauerten. Es hätte nicht schöner und interessanter sein können!

 


Jetzt wissen wir, dass bei der Geburt das Immunsystem des Welpen nur 5% von dem eines erwachsenen Hundes leistet und dringend auf den Booster durch die mütterliche Kolostralmilch angewiesen ist. Innerhalb von 12 bis spätestens 16 Stunden muss der Welpe diese aufnehmen, danach kann diese nicht mehr die Darmschranke passieren. Lebensrettend könnte in diesem Fall die Injektion mütterlichen Serums sein.
Die Zusammensetzung der Muttermilch ändert sich von Tag 1 bis Tag 7 erheblich, der Proteingehalt sinkt auf die Hälfte, der Laktoseanteil verdoppelt sich.  Ab Tag 7 nimmt das Körpergewicht eines gesunden Welpen täglich um 7% zu.

 

Tag 21 ist ein Wendepunkt im Leben eines Welpen. Die ausschließliche Säugezeit geht zu Ende, die Milchzähne brechen durch. Erstmalig kann der Welpe selbstständig Kot und Urin absetzen, und der Bewegungsradius mittels Torkeln und Krabbeln erhöht sich enorm.
„Wirklich“ riechen können Welpen mit 1-2 Wochen, hören mit 4, sehen mit 6 Wochen. Mütter wird das nicht überraschen. Auch von menschlichen Säuglingen weiß man, dass ihre Sehfähigkeit gering ist – ein Grund, warum Mütter instinktiv ihr Neugeborenes direkt vor ihr Gesicht halten, um ihm in die Augen zu schauen.

 

Professor Martin Fischer und Dr. Katja Söhnel fluten uns mit Daten und Wissen. Die natürliche Alterung des Erbgutes bei Säugetieren, das frühe Ableben unserer großen Hunde im Vergleich zu ihren kleinen Artgenossen, die Stoffwechselraten: Wie hängt das Größenwachstum unserer Hunderassen mit ihrer Lebensspanne zusammen?
Ausführlich referieren beide über die Gewichtsentwicklung des Welpen und jungen Hundes, die Sinnhaftigkeit des täglichen Wiegens, den Bewegungsbedarf eines Welpen, alles fundiert mit Daten, die bei den Hovawarten selbstverständlich vorliegen. Diese Selbstverständlichkeit ist in der Zucht anderer Rassen wohl nicht so selbstverständlich, und ein bisschen stolz sind wir, dass die ganze Dokumentation keineswegs für die Katz ist, sondern eine Investition in die Zukunft unserer Hunde.

 

Die Gewichtsentwicklung ab der 8. Lebenswoche ist spätestens nach der Abgabe selten täglich dokumentiert. Welcher Welpenkäufer wiegt schon täglich um die gleiche Uhrzeit? Dennoch hat Dr. Söhnel Daten vorzuweisen: Die maximale Gewichtszunahme beim Hovawart liegt am Tag 100 bei 170g /Tag, das halbe Endgewicht ist am Tag 142 erreicht. In dieser Phase ist unser Junghund idealerweise kerngesund, sonst bestünde die Gefahr eines Wachstums-Stopps.

 

Weiter geht es mit Stoffwechselraten und Energieverbrauch im Wachstum. Während der Mensch im 1. Lebensjahr sein Gewicht verdreifacht, legt ein Pudel um das 20-fache, der Hovawart um das 60 bis 80-fache und eine Deutsche Dogge auf das 100-fache ihres Geburtsgewichts zu – mit Auswirkung auf das Lebensalter, denn „große Hunde sterben jung.“ Auch das Erbgut (unseres und das der Hunde, überhaupt aller Säugetiere) wird während der Alterung chemisch verändert: Die DNA-Veränderungen beim zweijährigen Hund entsprechen denen eines Anfang 50-jährigen Menschen. – Welche Konsequenzen kann man daraus ziehen, und gibt es protektive Faktoren gegen frühzeitige Alterung oder den frühen Tod? Da hätte ich gerne mehr darüber gewusst, zumal in manchen Hunderassen schwerwiegende und tödlich verlaufende Erkrankungen wie Knochenkrebs und Herzerkrankungen serienmäßig auftreten.   

 

Mit diesem Hintergrundwissen gerüstet erreichen wir die Fortbewegung: Wie bewegen sich junge Welpen fort, und wann beginnen sie zu traben?

 

Auf Grund der Reifung des Nervensystems verfügt der junge Welpe zunehmend über die Kontrolle seiner Gliedmaßen vom vorderen nach hinterem Ende, zuerst über die Vorderbeine mit Robben, auf Grund von Neugeborenen-Reflexen zuerst in kleinen Kreisen: Ein Entfernen von der Gruppe der Geschwister als Wärmequelle könnte in freier Wildbahn tödlich verlaufen, Zusammenbleiben ist überlebenswichtig.
Mit fortschreitender Reifung der Nervenbahnen in den folgenden Wochen stemmt sich der Welpe - breitbasig stehend wie bei einer vollen Windel - auch auf die Hinterbeine.  
Dieser breitbasige Stand der Hinterhand ist auch im Alter von acht, neun Wochen bei den ersten Ganganalysen auf dem Laufband noch gut zu erkennen.

 

Die anfänglichen Untersuchungen auf dem Laufband sind schwierig, weil der Welpe nicht weiß, was er soll, sich nicht lange konzentrieren kann (Baby halt!) gelockt mit Futter gerne den Körperschwerpunkt verschiebt und damit die Druckmessungen beim Auftreten verfälscht werden können. Dennoch ist deutlich zu sehen: Der Gang ist hinten breit und vorne in der Spur, der Körper schlenkert, von oben betrachtet, nach beiden Seiten.

 

Einige Wochen später traben und gehen die jungen Hunde schon viel geordneter, und besonders spannend sind die Animationen eines erwachsenen Hundeskelettes, in denen wir in Ruhe die Winkelungen von Vorder- und Hinterhand beim Bewegungsablauf eines trabenden Hundes verfolgen können. Sie verändern sich (fast) nicht! Der Hund fixiert diese über starke Muskeln und federt locker ab, während Hinterhand aus der Hüfte nach vorne schwingt und die Vorhand dasselbe aus der auf dem Brustkorb nach vorne gleitenden Schulter tut.
Einzelaufnahmen von Durchleuchtungen zeigen, wie das Schulterblatt des Hundes im Trab bis zum 5. Halswirbel vorschwingt: Wer kann jetzt noch im Alltag und anlassbefreit ein Geschirr nutzen wollen?

 

Die Entwicklung der Hundepfoten, die dem Hund vorweg wachsen und dann im Weiteren immer mehr Gewicht pro Fläche tragen müssen, vom Plattfuß des tapsigen Welpen bis hin zur stabilen Pfote, deren Bänder über starke Muskeln auf Zug gehalten werden, so dass der Hund federnd mit geringem Kraftaufwand „Kilometer frisst“. Schön war der Gang meines Hundes schon immer, jetzt weiß ich, wie er zustande kommt.
In der Kaffeepause wird das lebende Modell auf den Tisch gestellt, die Pfoten und die Winkelungen begutachtet, und verglichen: „Sehen Sie, der Pudel, seine Schulter, die Unterarmknochen stehen steiler, auch die Pfoten ...“

 

Zwei Fallbeispiele demonstrieren, wie unglaublich gut junge Hunde Verletzungen verarbeiten und Wachstum nach einer Knochenheilung auch wieder aufgeholt werden kann. Ganz nebenbei erfahre ich, wo ich meinen jungen Hund im Falle einer Fraktur gut behandeln lassen könnte, und dass Belastung die Wachstumsfugen offenhält.  

 

In der letzten Stunde gibt es noch ein paar Schmankerl zur Nase unseres Hundes.
Klar, bei der Sucharbeit kann der Hund anhand von fünf Schritten eines Tieres oder eines Menschen die Laufrichtung bestimmen und sein Atemvolumen verzehnfachen bis auf 60l/min, auf Kosten der eigenen Temperaturregelung.
Wer von uns wusste, dass die Hundenase nur feucht ist, wenn der Hund sie mit der Zunge befeuchtet? Wer hätte geahnt, dass die Luft von vorne über die Mitte eingesaugt eine Geschwindigkeit von über 120km/h erreicht und über die seitliche Nasenöffnung nach hinten ausgepustet wird, neue Gerüche rechts-, altbekannte linksnasig verarbeitet werden?
Denn ab Nasenschwamm werden alle Eindrücke erst einmal auf der gleichen Seite des Gehirns weitergeleitet. Unter anderem läuft eine Nervenbahn dorthin, wo bei uns Menschen die Sehrinde liegt. Das passt hervorragend zu dem, wie mein Hund bei der Dummy-Suche die Gegend kartiert. Eine andere führt ins Vorderhirn, dort erfolgt die Planung komplexer Handlungen.
Wir haben keine Ahnung, so Professor Fischer, wie unser Hund die Welt erlebt, und wie wichtig die Pee-Mails auf der Gassi-Strecke sein können.

Wie bei jedem guten Vortrag tun sich spätestens am nächsten Tag mehr und neue Fragen auf.  Labradore laufen o-beinig, unsere Hovawarte häufig hackeneng, manche auch kuhhessig. Welche Auswirkungen hat die Beinachse auf das Gangwerk?
Ist ein Vergleich der Methylierungsraten der DNA, der Alterung des Erbgutes artenübergreifend weiterführend und hilfreich? Es fällt mir schwer im Verhalten und der körperlichen Leistungsfähigkeit eines 2 Jahre jungen Hovawarts einen 50-jährigen Menschen zu erkennen.
Ich suche weiteren Wachstumsraten: ein junger Blauwal verdoppelt im ersten Jahr seine Länge auf 15m, danach legt er jedes Jahr weitere ein bis zwei Meter zu bis zur Geschlechtsreife mit 8 bis 10, die geistige Reife eines Blauwals ist nirgendwo vermerkt…

 

Nach diesem Tag bin ich überzeugtes Neumitglied der Gesellschaft für Kynologische Forschung und gespannt auf die versprochenen PFD-Dateien und alle weiteren Ausgaben.
Hätte man das auch online haben können? Nein, wer nicht da war, der hat was verpasst. Dieser Vortrag war interaktiv, der Inhalt wurde laufend an aktuelle Fragen und Diskussionen unter den Zuhörern angepasst.  Und wenn es so eine Veranstaltung jährlich stattfände, ich wäre sofort dabei!